Das Dilemma der EZB: Die Zinswende kommt

Die hohe Inflationsrate in der Eurozone (Mai 2022: 8,1 Prozent) führt dazu, dass die europäische Zentralbank (EZB) nach Jahren erstmals die Leitzinsen anhebt. Am 9. Juni 2022 erklärte die EZB im Rahmen der Ratssitzung, dass der Zinssatz nach der geldpolitischen Sitzung im Juli zunächst um 25 Basispunkte steigen wird. In einem nächsten Schritt ist ein weiterer Anstieg im September des Jahres geplant – gegebenenfalls mit einem höheren Zinsschritt. Soweit zur Ausgangslage. Aber was bedeutet das für Sparer? Helfen die Maßnahmen der Zentralbank, die Inflation einzudämmen und lässt sich die Zinswende durchhalten? Einige Staaten in Europa kamen bereits nach wenigen Tagen in Turbulenzen, als die Anleihen einen Zinsanstieg vorwegnahmen. Zunächst aber zur Frage: Reicht der übersichtliche Zinsschritt überhaupt? Wir haben uns bei Ökonomen und Volkswirten der deutschen Finanzbranche umgehört.

Banken und Verbände: Zu spät, zu zögerlich

"Wir denken, dass die EZB angesichts der viel zu hohen Inflation zu spät und zu zögerlich reagiert. Die EZB hat eine Gelegenheit verpasst, um mittels eines sofortigen Endes von Anleihekäufen und Negativzinspolitik ein klares Zeichen der Entschlossenheit zu zeigen", erklärte ein Sprecher von LBBW Research, der Denkfabrik der Landesbank Baden-Württemberg auf Anfrage. Ähnlich, wenn auch etwas zurückhaltender, äußerte sich Helmut Schleweis, Präsident des Deutscher Sparkassen- und Giroverbands (DSGV). "Für die Zinssitzung im Juli sollte sich der EZB-Rat aber zu einem deutlicheren Schritt durchringen und den Leitzins gleich um 0,5 Prozentpunkte anheben. Die heute als wahrscheinlichere Dimension angekündigten 25 Basispunkte sind zu zögerlich", so Schleweis. Indes hält er generell das Ende der Anleihekäufe für ein "längst überfälliges, gutes und wichtiges Signal für die Menschen in Europa.

Vorsichtig äußerte sich Dr. Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank. Seiner Meinung nach ist die EZB in den vergangenen Wochen aufgewacht in Bezug auf die Gefahren einer jahrelangen Inflation. "Sie tut jetzt endlich was. Die Leitzinsen werden bereits in diesem Jahr deutlich steigen. Es kann aber gut sein, dass sich im kommenden Jahr herausstellt, dass sie nochmal nachlegen muss."

Dr. Otmar Lang, Chefvolkswirt bei der TARGOBANK möchte der EZB fast zum geldpolitischen Schwenk gratulieren. Gleichzeitig muss er fast ein Bedauern aussprechen, dass "sie damit womöglich zu spät dran ist. Viele Banken preisen bereits für 2023 eine Rezession ein."

Festgeld-Vergleich - über 600 Angebote im Überblick »

"Die EZB hat sehr spät reagiert und zu lange an ihrem Narrativ festgehalten, dass hohe Inflationsraten eine kurzzeitige Erscheinung sind. Zudem kauft die EZB bis Ende Juni weiter Staatsanleihen an", erklärt Dr. Ulrich Stephan von der Deutschen Bank. Vor dem Hintergrund der Entwicklung bei anderen Zentralbanken erwartet der Chefanlagestratege für Privat- und Firmenkunden, dass die EZB die Inflation eher weiter anheizt. "Aufgrund der Zins- und Renditedifferenzen zu anderen Ländern verliert der Euro an Wert, sodass sich der Import von Waren aus anderen Währungsräumen verteuert. Die EZB wird wohl in der zweiten Jahreshälfte weitere Leitzinsschritte folgen lassen müssen - auch, um den Außenwert des Euros zu stützen."

"Die bisher angekündigten Schritte sind mehr als überfällig und sind die Normalisierung der Geldpolitik", schätzt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING. Ob und wie viele Zinsschritte nach der Sommernormalisierung folgen sei aber viel offener als die Märkte denken. "Die EZB kann mit ihrer Geldpolitik die Ursachen der aktuellen Inflation nicht bekämpfen. Sie kann nur verhindern, die Wirtschaft unnötig zu stimulieren", so Brzeski.

Abschließend noch der Kommentar vom Chef des ifo-Instituts Clemens Fiest, der schon direkt im Anschluss an die EZB-Ratssitzung im Juni keinen Hehl daraus machte, dass er die Ansage für zu kurz gesprungen hielt. "Die Zinsentscheidung der Europäischen Zentralbank ist ein richtiger Schritt, der aber zu spät kommt. Es war nicht akzeptabel, dass die EZB bei einer Inflation von acht Prozent bis heute an Negativzinsen und Anleihekäufen festgehalten hat."

Unterm Strich hätten sich zumindest die Banken und Verbände in Deutschland eine mutigere Strategie der europäischen Zentralbank gewünscht – und deutlich früher. So hängen die Notenbanker der Eurozone der Entwicklung im Rest der Welt hinterher.

Bedienhinweis: Einzelne Datenreihen lassen sich durch Klick auf die betreffende Überschrift aus- und wieder einblenden.

Quellen:

Inflationsrate senken vs. Konjunktur fördern

Die Zentralbank in der Eurozone steht mit dem Schritt zur Zinswende vor einem Dilemma, darüber sind sich Ökonomen bzw. Finanzexperten einig. Inflationsbekämpfung mittels Zinserhöhung und die gleichzeitige Stützung der Wirtschaftskraft von Euro-Ländern mit unterschiedlichem Verschuldungsgrad – das sind zwei Königskinder, die nicht miteinander können. Insofern kam, was kommen musste: Mitte Juni 2022 rief die EZB zur außerordentlichen Ratssitzung. Hauptgrund war die eingetretene Unruhe am Anleihenmarkt. Deutlich gestiegene Renditen von Staatsanleihen südeuropäischer Staaten alarmierten die Währungshüter. Obwohl der Leitzins absehbar nur minimal steigt, rudert vor allem Italien bereits jetzt. Eine Staatspleite in Europa kann sich indes niemand leisten.

Die Entscheidung der Ratssitzung: Die EZB unter Präsidentin Christine Lagarde behält sich vor, Gelder aus dem kürzlich beendeten Corona-Notkaufprogramm PEPP bei der Wiederanlage auslaufender Anleihen flexibel einzusetzen und damit bspw. italienische Anleihen zu erwerben.

Darüber hinaus will die EZB neue Instrumente schaffen, mit denen sich die Renditeabstände zwischen Euro-Staatsanleihen begrenzen lassen. Welche? Die Frage wurde nicht beantwortet.

"Mit ihrer Ankündigung, entsprechende Kaufprogramme aufzulegen, konnte die EZB den Anstieg der Renditen von italienischen Staatsanleihen stoppen und gegen den Trend sogar deren Sinken bewirken", bewertet TARGOBANK-Chefvolkswirt Dr. Otmar Lang die Lage. "Infolgedessen konnte sich auch der Euro leicht erholen." Vor dem Hintergrund der steigenden Inflationsraten ein wünschenswerter Effekt.

"Viele Länder der Eurozone konnten ihre Schulden in den vergangenen Jahren umstrukturieren: Sehr niedrige Zinsen für sehr lange Zeiträume lassen das Risiko einer erneuten ‚Euro-Schuldenkrise‘ derzeit eher gering erscheinen", bewertet von Dr. Ulrich Stephan von der Deutschen Bank die Lage. Aber auch er bleibt nicht ohne Warnung. "Ein zu starkes Auseinanderlaufen der Spreads sollte die EZB kurzfristig verhindern können. Mittel- bis langfristig müssen aber die hochverschuldeten Länder mittels Strukturreformen ihre Schuldenquote senken, da die EZB aufgrund von Höchstgrenzen für Anleihekäufe nicht unbegrenzt als Käufer auftreten kann."

"Mit der Rückkehr der Zinsen ist auch die finanzielle Schwerkraft wieder zurückgekommen. Die Staaten können nicht mehr alles finanzieren. An diese Budgetbeschränkung werden die Finanzpolitiker in Europa wieder schmerzhaft erinnert werden", schließt DekaBank-Chefvolkswirt Kater.

Ähnlich sieht es ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski, der darauf hinweist, dass der Spielraum für Zinsschritte nur sehr begrenzt vorhanden sei.

Bei der LBBW sieht Chefvolkswirt Moritz Kraemer auch das angedachte Spread-Instrument. In einer Expertise aus dem Juni 2022 wurde jenes als "unklar, gefährlich und unnötig" bezeichnet. Es mangele an Kriterien und verhindere Anreize zu wirtschaftspolitischen Reformen. Zudem merkte Kraemer an, dass das Bundesverfassungsgericht ein entsprechendes Instrument als unerlaubte direkte Staatsfinanzierung einstufen könnte. Ein Schiedsspruch in dieser Richtung würde die Glaubwürdigkeit der EZB beschädigen. Nicht zuletzt besitze die EZB mit der (bisher ungenutzten) Outright Monetary Transactions (OMT) bereits ein passendes Werkzeug, mit dem sich Staatsanleihen gezielt kaufen lassen. Der Haken: Dieser Ansatz ist mit wirtschaftspolitischen Auflagen der betreffenden Staaten verbunden.

Fremdwährungskonto-Vergleich »

Wie viele Zinsschritte wird es bis Jahresende 2022 geben?

Bei LBBW Research wird mit insgesamt vier Zinsanhebungen gerechnet, sodass der EZB-Einlagesatz in Summe bei 1,00 Prozent (+150 Basispunkte) liegt. Die DekaBank prognostiziert ebenfalls vier Zinsschritte und einen Leitzins von 0,75 Prozent bis Jahresende. Der bereits erwähnte Chefvolkswirt der TARGOBANK geht davon aus, dass die Zentralbank versucht, mit zwei Zinsanhebungen von jeweils 0,25 Prozent im Jahr 2022 durchzukommen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen Zinsschritt von 0,50 Prozent steige. Von der Deutschen Bank werden nach dem Schritt im Juli insgesamt zwei weitere Zinsschritte angesetzt – je nach Wirtschaftslage mit bis zu 50 Basispunkten. Bei der ING liegen die Erwartungen bei 25 Basispunkten im Juli, 50 weiteren im September sowie 25 Basispunkten im Oktober.

Die Experten von Tagesgeldvergleich.net rechnen mit maximal drei Zinsschritten im Jahr 2022 und einem Leitzins rund um 1,00 Prozent zum Jahresende.

Erwartete Zinsanhebungen 2022 Prognose zum Jahresende (in %)
LBBW 4 k. A. (EZB-Einlagefazilität: 1,00)
DekaBank 4 0,75
Deutsche Bank 3 0,75-1,25
ING 3 1,00
TARGOBANK 2-3 0,50-0,75
TGV.net 3 1,00
Quelle: Tagesgeldvergleich.net

Die EZB bleibt die Regionalbahn der Zentralbanken

Zinswende: Ja, aber im Bummel-Tempo und eigentlich zu spät. Die EZB beweist erneut, dass sie eher einem Regionalzug als einem ICE (oder TGV?) entspricht, was ihre Entscheidungen angeht. Daran ändert sich derzeit nichts. Bisweilen kann so der Eindruck der Untätigkeit bzw. des allgemeinen Unwillens zur Kurskorrektur aufkommen. Verwundern sollte das indes kaum jemanden. Zu unterschiedlich sind die Interessen (und der Verschuldungsgrad) der vertretenen Staaten. Worin der eine sein Heil sucht, führt den anderen in den Abgrund. Es darf übrigens als bemerkenswert gelten, dass aus Reihen der Zentralbank zuletzt vermeldet wurde, dass die Zentralbank ihre Pläne für eine leichte Anhebung der Zinsen nicht mehr überdenken werde. Negative Zinsen seien nicht mehr zeitgemäß. Ein kleiner Schritt für die Zinsen, aber ein großer für die EZB.

Zum Tagesgeld- und Festgeldvergleich